Marcus Rinke und seine ganz persönliche Herausforderung: Sein ganz persönlicher Erfahrungsbericht

am D-Day: Marcus Rinke am Start um 6.00 Uhr morgens

Doktor, sag mir doch bitte wie die Krankheit heißt, die ich habe,

aber die Therapie übernehme ich dann lieber selbst: -Rockenhausen (2011)

The day after. Es ist 8:30 Uhr, unser Sohn kommt ins Schlafzimmer. „Und . . ? -Papa wie war es?“ „Es hat geklappt“. Dann ein Lachen und ein Grinsen von einem Ohr zum anderen. „Was ist?“. „Du siehst sch . . . lecht aus!“ Und schon hat er der Racker den Fotoapparat gezückt. Er hatte recht, denn so tiefe Augenränder hatte ich auch nach durchfeierten Nächten wohl noch nie (oder seit langem nicht) gehabt. Was war passiert?

Norbert Ruffing und ich hatten uns am Donnerstagabend bereits locker verabredet, Rockenhausen ein Stück gemeinsam zu fahren, und uns auf eine getrennte Anreise verständigt. Nun klingelt der Wecker. Es ist 4:30 Uhr. Frauke (meine Frau) hatte sich bereit erklärt mich so zum Start zu fahren, dass ich kurz vor 6:00 Uhr dort bin. Das hat den Vorteil, dass am Ziel kein Auto steht und ich einen Grund mehr habe, mit dem Rad nach Hause, nach Altstadt zu fahren. Ich muss mich unter Druck setzen, denn ich weiß ja vorher noch nicht, in welchem Zustand ich sein werde, wenn ich am Ziel wieder ankomme. Und die Jahre zuvor sah ich im Ziel nie gut aus.

Kurz vor 6:00 Uhr treffe ich Norbert und Andrea. Toll, geteiltes Leid ist halbes Leid, denn es ist nass und beginnt leicht zu regnen. Als bekennende „Sissi“ bin ich wasserscheuer als jede Katze; aber welche Alternative hat man. Denn das Wetter (die Windrichtung) für heute ist als perfekt vorhergesagt. Morgens Gegenwind (da gibt es ja die Hinterräder von Norbert und Andrea), nachmittags dann Rückenwind und abends auf dem Nachhauseweg wieder Gegenwind, der aber dann eigentlich ausfallen müsste, da ja schon seit Tagen ab 20:00 Uhr kaum noch ein Lüftchen weht. Und vor 20:00 Uhr werde ich nach der 300ter-Runde ohnehin nicht im Ziel sein.

Im Gedanken an warme und trockene Füße spulen wir drei die ersten zig km ab, unterhalten uns und ich bewundere die Leichtigkeit mit der Andrea die Berge hoch fährt. Nach ca. 120 km erreichten uns Christoph Ruffing und Patrik Hartmann und ich konnte einmal bei anderen Leuten im Windschatten fahren. Aber es ging mir nach 140 km besser als bei meinen zwei Rockenhausen-Marathons zuvor.

Mit Neid blicke ich Andrea, Norbert und den anderen hinterher. „Warum tue ich mir das eigentlich an?“. Aber die Antwort darauf werde ich nicht finden, das habe ich aufgegeben. Die Konsequenz bedeutet jedoch ganz einfach „Rad fahren bis es nicht mehr geht“. Also Grenzen finden und verschieben. Ich bin noch nie ein richtiges Rennen gefahren, dafür fehlt mir die Härte. Bin aber viele Gepäcktouren gefahren. Einmal auch 350 km von Hannover nach Rostock, das ist zwar eine flache Topographie aber mit 4 Packtaschen mein bisheriger Rekord und der ist leider bereits 20 Jahre alt.

Neben mir sitzt Georg (aus Pirmasens) auf der Bank. Er will auch in die 300 km-Schleife einbiegen. Er ist am Berg im Wiegetritt mit ziemlich kleinem Puls unterwegs. Irgendetwas fasziniert mich an diesem „älteren Mann“. Preiswertes, scheinbar zuverlässiges Rad, windgegerbte braune Haut und keinerlei Körperfett. Wir sprechen wenig und quälen uns gemeinsam in einer nonverbalen tiefen Leidensbeziehung die Hügel hoch und runter. An der Mosel angekommen sind wir inzwischen aber so weit, dass wir gemerkt haben, dass wir einen ähnlichen Humor besitzen. Wir bleiben zusammen, geteiltes Leid. . .

Nach der erneuten Kontrolle in Kastellaun kommen wir ins Gespräch. Er hat ähnliche Länder (Türkei, Jordanien usw.) vor vielen Jahren mit dem VW-Bus bereist, die ich von einer Gepäcktour kenne. Auch er mag die arabische Kultur. Und er berichtet davon, dass es ihm heute schlecht geht. – Mir inzwischen aber auch. Bei ihm liegt es nicht an seinen 59 Jahren sondern daran, dass er letztes Wochenende von Hamburg auf den Brocken (Berg im Harz) und zurück gefahren ist. -600 km am Stück! Es stellt sich heraus, dass Georg zu dieser „verwegenen“ Sorte von Rondonneuren, diesen Ultralangstreckenfahrern, gehört. Das Wochenende davor war er bei einem Brevet in Freiburg, dann 600 km durchs Schweizer Jura. In der Vergangenheit Race across America und aktuell ist er in der Vorbereitung auf Trondheim-Oslo. Er hat Urlaub und will erst einmal mit dem Rennrad nach Trondheim fahren. Ok, dann schaffe ich es wenigstens bis nach Altstadt.

Zwischen 250 km und dem Ziel baue ich erschreckend schnell Substanz ab. Gut, dass ich bei Georg am Hinterrad „lutschen“ kann, und es zur letzten Verpflegung „nur“ noch 30 - aber lange - Kilometer sind. Wurstbrote, Käsebrote, Bananen und, das erste Mal für mich, das zuvor erprobte Gelzeug. Das Zeug hilft ja tatsächlich. Bisher bin ich immer konservativ unterwegs gewesen, aber nun benötige ich diese Hilfe und die funktioniert auch.

Im Ziel um ca. 20:10 Uhr verabschieden wir beide uns ganz herzlich. Dankenswerter Weise konnte ich bei der Anmeldung einen Beutel mit Beleuchtung und Verpflegung deponieren, dessen Inhalt ich nun in meine schönen großen RV‑Blitz-Rückentaschen füllen kann. Und dann das befreiende Gefühl Rockenhausen zu verlassen. Es ist fast 20:30 Uhr und wieder ziehen dunkle Wolken auf.

Noch ist es hell. Auf den vor mir liegenden Straßen wird kein Autofahrer im Dunkeln mit einem Radler rechnen. Daher nur keine Pause machen und möglichst weit kommen. 21:00 Uhr und wieder werde ich nass. Auch wenn es ein kurzer Schauer ist, die Frustrationstoleranz sinkt mit der körperlichen Leistungsfähigkeit. Um 22:00 Uhr wollte ich in Miesau sein. Ich habe ca. 40 min Verspätung. –Macht nichts. Einfach weiter treten. Ich merke, dass das Denken nicht mehr so gut funktioniert und ich emotional instabil werde. Früher fing dieser Zustand nach weniger km an. Aber mir wird, erschreckend langsam, klar, dass eine 40minütige Verspätung eigentlich ja gar nicht so schlimm ist. Ich komme halt später zu Hause an und kann aber noch mein Ziel erreichen. Darüber breitet sich in der Dunkelheit spontane Euphorie aus und ich beschließe mir zu Hause frische Radsachen anzuziehen und dann noch nach Blieskastel auf dem Radweg zu fahren. Damit habe ich die Chance die 400 km am Tag zu schaffen. Für Georg ist das eine Trainingsdistanz für mich ist es etwas Besonderes.

Mein Handy klingelt. Meine Frau ruft an. Wo bist du denn? Zwei km westlich von Hütschenhausen. „Wo ist das denn?“ (wir wohnen noch nicht so lange im Saarland). Ein Stammeln meinerseits fängt an. –Ich habe wieder Wortfindungsprobleme. Es dauert einige Zeit bis ich erklären kann, dass ich bald zu Hause bin und dann die 400 km noch voll machen möchte. Sie erklärt mir wo sie die Nudeln hinstellt (@Frauke: Ganz lieben Dank dafür) und geht in Bett.

„23 Uhr-irgend-etwas“, ich kann mich nicht mehr an viel erinnern. Nur noch daran, dass alles weh tut, Rücken, Nacken, Füße, beide Knie an unterschiedlichen Stellen usw. Und dann diese Phantomschmerzen. Dabei tun mir Muskeln weh, die ich gar nicht habe (‑oder deshalb).

Geschafft ich bin zu Hause, 372 km. „Das hätten wir!“ Lange Hose anziehen, warmes Langarmtrikot und weiter geht es Richtung Blieskastel. Alles schmerzt aber ich fühle mich überraschend gut und mir geht es wesentlich besser als vor der letzten Kontrollstelle. Warum auch immer.

Der Radweg erweist sich mit meiner Beleuchtung im Dunkeln als schlimmstes Teilstück überhaupt. Und trotz der warmen Sachen friere ich sehr im Nebel. Der Wackelkontakt meines Scheinwerfers führt darüber hinaus dazu, dass ich zweimal ins Gras rolle aber nicht stürze. Glück gehabt.

01:00 Uhr, geschafft. Ich bin zu Hause. Unter der (zu warmen?) Dusche merke ich dass der Kreislauf etwas instabil ist, aber die Nudeln schmecken und das Belohnungs-Weizenbier lässt mich gleich im Sessel einschlafen. Der Pulsmesser am Rad zeigt fast 9800 kcal an, der Tacho steht auf 401 km. Alles tut weh aber ich bereue nichts.

Rockenhausen 2012: Ich bin wieder dabei (mit besserer Beleuchtung), aber nur wenn es nicht regnet. J

the day after: einen Tag später um 9.00 morgens